Corona und das „New Normal“
Wir brauchen noch lange bis zur neuen Selbstverständlichkeit!
Der Weg in nur halbwegs vertrautes Gebiet fängt erst an. Derzeit wird viel probiert und Praxiserfahrungen werden gesammelt. Wir müssen jetzt die speziellen Spielregeln erkennen, besondere Hürden und Schwierigkeiten und neue Chancen entdecken mit dem Ziel, die eigene Handlungsfähigkeit in der neuen Umwelt möglichst schnell zu verbessern.
Von Hans Gärtner, Stephan Dohrn (Radical Inclusion) und Udo Kronshage (osb international systemic consulting)
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Vom Exotischen zum Mainstream in nur sechs Monaten!
Als wir in der Beratung vor zwölf Jahren angefangen haben, virtuelle Zusammenarbeit zu praktizieren und zu trainieren, war virtuelles Arbeiten eine Ausnahmeerscheinung: In Unternehmen gab es einzelne Homeoffice–Nutzer und einige Inhouse IT–Spezialisten, die große Verhandlungsmacht hatten und auf deren individuelle Arbeitsplatzforderungen man eingehen musste, wollte man sie halten. Es gab Freelancer, die als “Digitale Nomaden”, herablassend belächelt und gleichzeitig beneidet, wenn sie gefühlt vom Strand einer Südseeinsel aus ihre „Arbeits“ergebnisse präsentierten. Eine weitere Gruppe virtueller Arbeiter waren Start-ups, in denen Spezialisten aus aller Welt verteilt zusammenarbeiteten oder auch „Remote Work“-Missionare, meistens Plattformanbieter, die das Geschäftsmodell für ihre Kunden auch im eigenen Unternehmen praktizierten. Die Zusammenarbeitstools waren vor wenigen Jahren technisch noch nicht sehr ausgereift, und in der Anwendung gab es Anlass für Ärger. Aber man sah darüber hinweg und praktizierte irgendwie virtuelle Zusammenarbeit.
Insgesamt konnte sich jedoch die Meinung halten, dass das Normale eben die Präsenzarbeit ist.
Seit Corona ist alles anders: Das „New Normal“ wird jetzt beschrieben, geradezu gehypt. Fast täglich wird in Zeitungen aus neuen Umfragen oder Studien zitiert, nach denen Mitarbeiter*innen sich mehr WFH („Work from Home“) wünschen. Online-Zusammenarbeitstools erleben einen Boom, die Anbieter gehören eindeutig zu den Corona-Gewinnern. Skeptiker, die vor Corona immer argumentiert haben, man brauche zur richtigen Zusammenarbeit unbedingt die physische Nähe, stellen plötzlich fest, dass vieles doch geht, wenn man virtuell zusammenarbeitet. Die virtuellen Arbeitsformen haben viele jetzt aus der Notwendigkeit heraus benutzt, um ihr Geschäft überhaupt noch weiter betreiben zu können, und beruhten weniger auf der Einsicht in irgendwelche Vorteile. Man äußerte allenthalten den Wunsch und Hoffnung, dass man nach der Lockdown-Phase wieder zum „Old Normal“ an den gewohnten Arbeitsplatz zurückgehen würde.
Nutzen und Risiken sind noch nicht klar erkennbar!
Inzwischen gibt es eigene Erfahrungen mit dem Einsatz virtueller Tools bei fast allen Menschen in Organisationen und Unternehmen, und sie haben sich eine Meinung gebildet. Im Detail betrachtet, sind die Befindlichkeiten jedoch ganz unterschiedlich: In einigen Studien werden die Vorteile herausgehoben, andere zitieren Äußerungen, nach denen sich nach anfänglicher Euphorie inzwischen Ernüchterung einstellt hinsichtlich der angeblich positiven Effekte des Arbeitens aus der Distanz und aus dem Homeoffice.
Die wesentlichen Punkte auf der Positivliste sind:
- Meetings sind kürzer und man kommt schneller auf den Punkt
- Weniger Störungen erlauben konzentrierteres Arbeiten
- Reise- und Rüstzeiten sind minimiert.
Hinweise gibt es auf steigende Produktivität, gleiche Resultate bei verringertem Ressourceneinsatz sowie mittel- und langfristige Kostenersparnis durch weniger Bürofläche.
Neben den konkreten Arbeitserfahrungen sehen manche auch größere gesellschaftliche Zusammenhänge: Vorteile für Menschen mit Behinderungen, Potenziale für neue Wohnkonzepte, weniger mit Pendeln verbrachte Zeit, Klima und Umweltfaktoren etc.
Auf der Negativliste der gemachten Erfahrungen stehen in den Umfragen auch negative Punkte:
- Die Kommunikation in der virtuellen Zusammenarbeit ist eingegrenzter mit wenig Raum für Spontaneität.
- Es gibt weniger Kontakt zu Chef und Kolleg*innen.
- Trainings und Einweisungen sind aufwändiger; Neue brauchen länger, um in den Job hineinzufinden.
- Die Bearbeitung komplexer und kreativer gemeinsamer Aufgaben (Brainstorming, Problemlösungen, strategische Themen) dauert länger oder funktioniert gar nicht.
Aushandlungen und Neukalibrierung beginnen jetzt erst!
Aus diesen Gegenpolen resultieren Fragen über die mittel- und langfristigen Effekte des virtuellen Arbeitens in Organisationen: Wie integriert man neue Mitarbeiter*innen in die Organisation, wenn sie keinen oder wenig persönlichen Kontakt miteinander aufnehmen können? Wie entwickelt man eine Unternehmenskultur, wenn ein Großteil der Mitarbeiterschaft im Homeoffice arbeitet? Wie verhindert man eine Zweiklassengesellschaft zwischen denen, die aus dem Homeoffice heraus arbeiten dürfen und denen, die es wegen spezifischer Arbeitsplatzbedingungen (z. B. Produktionsarbeiter) nicht können?
Da die Corona-Situation noch neu ist, sind die genannten Motive und Erkenntnisse jedoch derzeit noch auf recht oberflächlicher und phänomenologischer Ebene. Glaubenssätze bestimmen immer noch die Diskussion; gemessene Effektivitäts- und längerfristige Einstellungsauswirkungen sind noch nicht vorhanden. Skepsis scheint auch durchaus angebracht, denn die positiven Effekte könnten auch auf die Angst vor Arbeitsplatzverlust zurückzuführen sein. In einem Unternehmen wurde die jetzt angebotene „freie Wahl zwischen 0 und 100% Homeoffice-Anteil“ mit einer insgesamt 10%igen Gehaltskürzung für alle verbunden.
Hier ist noch ein wichtiger Punkt, der berücksichtigt werden muss. Diejenigen, die jetzt die Ruhe und das ungestörte Arbeitsumfeld fern vom Büro genießen, haben mehrheitlich ihre bisherige berufliche Sozialisation im Face-to-Face Kontext erfahren. Von den dort entstandenen Beziehungen über persönliche Begengungen profitieren sie noch lange, auch wenn jetzt überwiegend remote gearbeitet wird.
Man wird sehen, wie sich die Balance zwischen Mitarbeiterwunsch und Unternehmensinteresse in der Zukunft noch entwickeln wird. Sicherlich wird ein Einflussfaktor auch die Länge des jetzigen Zustandes des eingeschränkten Wirtschaftens sein. Einige Tech-Giganten haben bereits die Schließung ihrer Büros bis zum Ende des Jahres verkündet; andere haben gerade beschlossen, das WFH-Konzept dauerhaft beizubehalten.
Wir haben die Werkzeuge, aber noch kein neues Haus!
Von “New Normal” kann noch lange keine Rede sein. Die Potenziale und die Auswirkungen auf das Arbeitsgeschehen durch das Arbeiten unter Distanzbedingungen (WFH ist ja nur eine Variante!) sind bei weitem noch nicht genutzt. Das Eröffnen einer Zoom-Konferenz oder eines Meetings auf MS Teams sind noch kein neues Arbeiten, es ist Telefonieren mit Kameraunterstützung. Die Tools, die jetzt sehr verstärkt angeschafft werden und die für asynchrones verteiltes Arbeiten genutzt werden können, sind inzwischen zwar vorhanden, werden aber noch wenig eingesetzt für das, was sie alles können. Die effektive Nutzung setzt entsprechende Veränderungen in den Arbeitsprozessen voraus! Dieser Wandel dauert in größeren Organisationen Jahre, in kleineren mindestens ein Jahr, selbst wenn er in einem gestalteten Veränderungsprozess vollzogen wird. Eigentlich weiß das jeder, der einmal eine komplexe Businesssoftware eingeführt hat oder sich klarmacht, wie lange wir schon mit E-Mails vertraut sind und wie viele Probleme wir mit Informationsflut und Missverständnissen aus diesem „Zusammenarbeits-instrument“ bis heute haben.
Mit dem tiefen technischen Wandel sind wir in den letzten Monaten in die neuen Formen von Zusammenarbeit und Kommunikation katapultiert worden und gelandet in einer Welt, die auch von neuen Regeln und Normen bestimmt wird. Es ist ähnlich wie der Schritt in eine andere Kultur, eine andere Lebensumgebung. Und wir reagieren jetzt auch in ähnlicher Weise, indem wir in unserer Selbstbeschreibung zunächst die Unterschiede minimieren und überdeutlich sehen, was unserer bisherigen Erfahrungswelt ähnlich ist. Oder wir überzeichnen das Anderssein und sind zutiefst verunsichert. Erst wenn wir zwischen diesen Extremen eingeschwungen sind, kommen wir im „New Normal“ an, mit nüchternem Blick und Wissen um die Ähnlichkeiten und Unterschiede zum „Old Normal“. Und erst dann nutzen wir die Potenziale des Neuen angemessen.
Wir brauchen noch lange bis zur neuen Selbstverständlichkeit!
Dieser Prozess ist nur bedingt zu beschleunigen, geschweige denn zu überspringen. Wir müssen jetzt die speziellen Spielregeln erkennen, besondere Hürden und Schwierigkeiten und neue Chancen entdecken mit dem Ziel, die eigene Handlungsfähigkeit in der neuen Umwelt möglichst schnell zu verbessern.
Und auf dem Weg werden wir immer mehr schwierige Aufgaben und Herausforderungen gemeinsam meistern, für die wir aktuell noch keine richtig guten Lösungen haben, für Kreativprozesse, komplexe Problemlösungen und Strategiefragen. Und es gehört jetzt auch dazu, über die Distanz Beziehungen zwischen Menschen aufzubauen, sie zu halten und zu vertiefen – als Fundament für die Bearbeitung dieser Herausforderungen.
Dieser Weg in nur halbwegs vertrautes Gebiet fängt erst an. Derzeit wird viel probiert und Praxiserfahrungen werden gesammelt. Wir werden in den kommenden Wochen in unseren Blogs die eine oder andere neue Landschaft näher erkunden und Pfade zeigen, wie die Arbeitseffektivität unter Distanzbedingungen erhöht werden kann.
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